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„Klassentreffen“ auf der Bühne des MGB

Die Theater-AG2 präsentiert ambitionierte Eigenproduktion.

Elf Jahre nach dem Abitur trifft sich ein Literaturkurs, um in alten Zeiten zu schwelgen und Bilanz zu ziehen. Aus dieser Grundidee entwickelte Autor und Regisseur Michael Polty mit seinem Schauspielensemble ein konflikt- und spannungsbesetztes Kammerspiel. Die Schülerinnen und Schüler schrieben in der Entstehungsphase eigene Rollenbiografien, schneiderten sich die Figur sozusagen auf den eigenen Leib und erreichen so nun im Spiel eine erstaunliche Authentizität. Was als Klischee, als Typisierung beginnt, erhält zunehmend Tiefenschärfe. Das sich entwickelnde Drama gibt jeder Figur den ihr gebührenden Raum, verlangt Spielern und Publikum viel ab. Wer sich aber auf die Tour de Force einlässt, wird emotional und intellektuell angeregt.

Zunächst überwiegt in der Gruppe die Neugier, die Wiedersehensfreude, aber schon bald scheint es keine Regeln mehr zu geben. Jeder darf sich über jeden lustig machen, durch ironische Bemerkungen den anderen als Blender entlarven, aus der Reserve locken. Dadurch, dass sich die Figuren auf dieses Spiel einlassen, ihre Selbstzweifel, unerfüllten Wünsche und Ängste offen legen, entsteht ein intensives Gemeinschaftsgefühl. Zugleich bewegend und doch lächerlich wirkt in diesem Zusammenhang die Szene, in der die mittlerweile Dreißigjährigen in nostalgischer Scheinharmonie den Beatles-Klassiker „Hey Jude“ singen. Dessen Text ist programmatisch: „For well you know that it’s a fool who plays it cool by making his world a little colder.” Irgendwann ist Schluss mit “cool” und so entwickelt sich eine Eigendynamik, die zur schonungslosen Auseinandersetzung mit dem eigenen Scheitern führt.

Fast schon kabarettistische Einlagen liefert Thomas Langauf mit seiner beißenden Kritik an der Verblödungsmaschinerie Fernsehen, verpackt in eine Tirade über seine sinnentleerte Existenz als Programmdirektor eines Privatsenders, als „Medienfaschist“, wie er das nennt. Die ironische Brechung, das Kippen vom Schweren zum Leichten gelingt dem Ensemble immer wieder auf eindrückliche Weise. Die Bühne als Schlachtfeld, auf der über das Bild, das man sich vom anderen macht, Theatertheorien und verfehlte Lebensentwürfe diskutiert wird, hat immer wieder auch Platz für das Komische. Hier sei beispielsweise Jessica Ferklaß als „therapeutische Bremse“ genannt, die in ihrem Bestreben, das Geschehen zu analysieren und zu kontrollieren überaus amüsant ist. Auch die Versuche des Familienvaters (Maroje Culinovic), sein spießiges Glück zu rechtfertigen, die Versicherung, der gescheiterten Autorin (Alice Urban), nicht verbittert zu sein und die Einblicke der Schauspielerin (Alexandra Selesnew) in die Zustände an Stadttheatern lösen im Publikum nicht nur Mitleid, sondern auch Gelächter aus.

Es spricht für das Stück, dass eine konkrete Veränderung im Leben der Figuren kaum zu sehen ist, denn so wird deutlich, dass der Mensch doch zu einem nicht unerheblichen Teil ein Produkt der ihn umgebenden Umstände bleibt, von denen er sich nicht ohne Weiteres befreien kann. Andererseits bleiben die Figuren trotzdem nicht in ihrer Selbstbeobachtung und Selbstzentriertheit gefangen. Die Nachricht über einen Unfall des eigenen Kindes löst diese schlagartig auf. In diesem Moment zeigt sich ihr Verantwortungsbewusstsein als Erwachsene, sie sind für den anderen da und finden zurück in den Alltag.

Auch der Zuschauer zieht während und nach dem Theatererlebnis unweigerlich Bilanz. Gleichzeitig wird ihm aber bewusst, dass nicht die solipsistische Bilanzierung des Einzelnen  entscheidend ist, sondern das menschliche Miteinander. „Klassentreffen“ ist so gesehen ein pädagogisches Drama, denn man wünscht sich unweigerlich, dass die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen während und nach ihrer Schulzeit diese Erkenntnis bewahren.

Marc Soedradjat