Das Ensemble "Post Dogs" präsentiert Lutz Hübners "Gretchen 89ff"
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Es ist schon außergewöhnlich, dass ehemalige und aktuelle Schülerinnen und Schüler der Abiturjahrgänge 2004-2012 sich entscheiden, jahrgangsübergreifend ein Ensemble auf die Beine zu stellen, um gemeinsam spielerisch ein Publikum zu begeistern.
Lutz Hübners Stück ist aufgrund seines kabarettistischen Charakters wie geschaffen, eine so bunte Truppe zu beschäftigen. Die berühmte Kästchenszene aus Goethes Faust wird auf der Probebühne eines Stadttheaters in der Provinz in zehn Variationen zum Stolperstein für alle Beteiligten.
Der Reiz des Stückes besteht in der identischen Grundsituation, aber niemals gleichen Interaktion zwischen Regisseur und Schauspielerin. Jede Szene wird von Michael Polty prägnant, kenntnisreich und mit teilweise bissigem Spott eingeleitet. Er ist der Zirkusdirektor, der die Zuschauer in die Arena führt, in der Regisseur und Schauspielerin sich wie Dompteur und Bestie einen existenziellen Kampf liefern.
Der Routinier (Michael Polty) mit obligatorischem roten Künstlerschal und vom Alltag desillusioniertem Habitus reagiert irritiert und zunehmend verzweifelt auf die gut gemeinten, übermotivierten und von Strassberg inspirierten Vorschläge der Anfängerin (Corinna Gropp), die in ihrem ersten Engagement alles zu geben bereit ist. Zum Schluss bleibt ihr jedoch nur eine Erkenntnis: method acting am Stadttheater, ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Verzicht auf die Maske tut der nächsten Szene gut, in der ein alter Haudegen eine durchaus talentierte junge Dame (Luisa Riedel) zum Wahnsinn treibt. Das schauspielerische Können der Akteure offenbart sich dadurch umso mehr. Diese köstliche Szene ist es wert, sogar zweimal gespielt zu werden. Gestik, Mimik und wundervolle Ticks lassen Dominik Laible und Jochen Link um Jahrzehnte altern. Und was man mit einem Bonbon erreichen kann, um eine Figur zu gestalten, ist einfach fantastisch.
Melanie Fritz, eine in der Provinz Gestrandete, offenbart ihren Neid auf die erfolgreichere Kollegin, die ihre Apotheose im Fachblatt „Theater heute“ erleben darf, sogar mit Bild, wie sie immer wieder selbstmitleidig beklagt. Tobias Diehlmann spielt ihren Gegenpart, den für die Requisiten zuständigen, ganz in seiner Aufgabe aufgehenden Handwerker ohne Verständnis für die Selbstdarstellungsneurose der frustrierten Schauspielerin. Scheint hier das Ideal von der Wahrhaftigkeit schon durch, das in der nächsten Szene ad absurdum geführt werden soll?
Der Schmerzensmann (Eugen Geisler) manipuliert auf seiner Suche nach Wahrhaftigkeit unter dem Deckmäntelchen der Psychotechnik Stanislawskis die überforderte Actrice (Alexandra Selesnew), die sich redlich Mühe gibt, sich aber letztlich nicht durchringen kann, die „Abo-Schweine“ durch ein grausames Theater zu verschrecken.
Philipp Neuweiler sprüht als Streicher geradezu vor Ideen, wie man den Text kürzen könnte. Seine Geistesblitze lassen ihn geradezu aufglühen und Carolina Wentzel kaum noch etwas zum Spielen, aber das übrig gebliebene groteske Textgerüst ist zumindest für das Publikum von großem Unterhaltungswert.
Eine ähnlich visionäre Figur ist die Dramaturgin (Sandra Brüstle), die mit einem männlichen Gretchen einen neuen Weg gehen will. Leider trifft sie in ihrem Vorhaben auf einen(!) überaus ignoranten und lässigen Gretchen (Manuel Zickwolf), der sein Desinteresse offen zeigt und sein materielles Interesse konsequent verfolgt. Die Dramaturgin muss in dieser Konstellation das monumentale Scheitern ihrer Idee erleben.
Ähnlich wie Tobias Diehlmann, der den Text gegen den Strich bürsten will und mit der Prostituierten (verrucht und sehr „authentisch“ gespielt von Sarah Pavelic) an seine Grenzen stößt.
Noch deutlicher wird schließlich der Freudianer. Lustvoll und hemmungslos interagieren Melanie Fritz und Tilo Steinke in dieser äußerst temperamentvollen Szene, in der Goethe als „Dichter des Fleisches“ geoutet wird.
Wie man einen Wendepunkt ausspielt, führen Alexandra Selesnew und Katrin Scheu gekonnt vor. Der Wechsel zwischen Bewunderung, Rivalität und Solidarisierung ist spannungsvoll inszeniert.
Die Vorfreude Poltys, mit der er die Szene zwischen der Diva und dem unerfahrenen Regisseur (Jochen Link) ansagt, ist unschwer zu erkennen und Nadine Herrmann enttäuscht uns nicht. Mit einer kühlen Souveränität und Präsenz gibt sie die Ideen des Neulings der Lächerlichkeit preis, und so wird dieser trotz leuchtender Augen in seinem Enthusiasmus für das Theater ausgebremst und verrät schließlich in seiner Hilflosigkeit die eigenen Ideale.
Und doch erreicht das Stück trotz der beißenden Kritik etwas Positives. Denn das Publikum findet Spaß an der gekonnten Selbstironie, dem Blick auf den Theateralltag, weil es so spannend ist, diesen Typen in ihrem Kampf zuzuschauen. Denn es geht bei aller Lächerlichkeit eben doch um die Ernsthaftigkeit und die Passion im Spiel. Theater mag mitunter, wie in den gezeigten Szenen scheitern, aber es ist wenigstens lebendig, so wie an diesem Abend auf der Bühne der Aula im Melanchthon Gymnasium.
Marc Soedradjat