Deutsch
Scheffelpreis 2017 für Helen Deutsch
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Alexandra Peschel erwähnte in Ihrer Laudatio, noch nie sei der Ausdruck "nomen est omen" so passend wie in diesem Abiturjahrgang. Denn Helen Deutsch erhielt als Auszeichnung für hervorragende Leistungen im Fach Deutsch den diesjährigen Scheffelpreis. In ihrer Rede, die sie bei der Preisverleihung hielt, griff sie das Thema Zeit auf. Wir danken der Verfasserin für die Möglichkeit, ihren Text auf der Homepage zu veröffentlichen und wünschen Ihnen bei der Lektüre viel Vergnügen.
Haben Sie Zeit? Zeit, sich einen Moment der Entspannung zu gönnen, Ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, in Ruhe mit ihren Kindern zu sprechen?
Als ich darüber nachdachte, worüber ich heute, an diesem für uns Abiturientinnen und Abiturienten ganz besonderen Tag, reden möchte, wurde mir klar, dass ein großer Überbegriff viele der Themen, die uns momentan beschäftigen, zusammenfasst. Michael Ende bringt diesen in seinem Roman Momo zur Sprache: die Zeit.
Ich verbinde mit Literatur hauptsächlich die vielen Bücher, die ich seit meiner frühen Kindheit verschlungen habe. Aus diesem Grund möchte ich mit einem Zitat aus einem meiner Lieblingsbücher, Momo, beginnen, das vielleicht manche von Ihnen und Euch kennen. Der Roman handelt von Zeitdieben und dem Mädchen Momo, das den Menschen die Zeit zurückbringt.
„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
Wir Abiturientinnen und Abiturienten müssen uns im Moment mit Fragen auseinandersetzen wie: Was fange ich jetzt mit meiner Zeit an? Wie möchte ich meine Zukunft gestalten? Was habe ich aus den vergangenen Jahren, die ich hier in der Schule verbracht habe, gelernt und wie kann ich dies auf mein Leben anwenden, für den Alltag als Hilfe instrumentalisieren?
Ich erinnere mich daran, dass häufig gefragt wurde: Und was bringt mir das? Besonders im Deutschunterricht, wenn wir Textstellen komplexer literarischer Werke analysierten, erschien der praktische Nutzen einer solchen Aufgabe oft als schwer greifbar.
Da wir unsere Gymnasialzeit in lediglich acht Jahren absolvieren, sind wir in der Regel gezwungen, sehr viel in sehr kurzer Zeit zu lernen. Neben Klausuren und Mittagsschule haben viele Schwierigkeiten, ihre Hobbies unterzubringen und genügend Zeit für sich selbst zu finden. In der Oberstufe haben wir zu diesem Thema eine textgebundene Erörterung verfasst. Leben in der heutigen Multitasking-Leistungsgesellschaft, die signifikante Bedeutung von Auszeiten für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden, welche auch für uns eine wichtige Rolle spielt - sowohl im Schulalltag als auch im künftigen Berufsleben.
Doch wenngleich so mancher geliebte Zeitvertreib vielleicht auf der Strecke blieb und darunter leiden musste, kann ich heute nicht ohne Stolz verkünden, dass wir es geschafft haben, diese Zeit erfolgreich hinter uns zu bringen. Acht Jahre, in denen wir zusammen gelacht und gelitten haben. Freundschaften wurden geschlossen, schöne, nervenaufreibende und bisweilen auch traurige Momente liegen hinter uns. Geteilte Erfahrungen, die uns zusammengeschweißt haben. Ich habe zum Beispiel das Bild von uns Abiturienten vor Augen, als wir vor den Abiturprüfungen alle zusammen auf dem Gang stehen, die angespannten Minuten, bevor wir die Prüfungsräume betreten. Wir sind an den Schildern mit der Aufschrift „Abitur, kein Durchgang“ vorbei gelaufen in dem Wissen, dass es nun für uns alle gilt, diese Hürde zu überwinden und dass wir dabei nicht alleine sind.
Wir kommen während unserer Schullaufbahn auf vielfältige Weise mit demThema Zeit in Berührung. In Deutsch Klausuren nehmen Schüler diese sehr unterschiedlich wahr. Ich erinnere mich daran, dass, um es mit den Worten aus Momo auszudrücken, die fünfeinhalb Stunden unseres Deutsch-Abiturs für manche einem Augenblick, für andere einer Ewigkeit gleich kamen.
Ich finde es wichtig, zu betonen, dass auch der Zugang zur Literatur sehr unterschiedlich ist.
Ein guter Freund, der in schwierigen Lebenssituationen zuhören kann, der jederzeit mit Rat zur Seite steht und durch seine Worte wieder ein Lächeln auf dein Gesicht zaubert, ist für mich ebenso literarisch begabt wie jemand, der sich imstande sieht, seitenlange Analyse- und Interpretationsaufsätze zu verfassen. Gerade in der heutigen Gesellschaft ist es unglaublich wichtig, Empathie und Fürsorglichkeit zu entwickeln, kommunikative Kompetenzen zu nutzen, um Hilfe und Unterstützung zu offerieren.
Nicht nur wir haben in den vergangenen Jahren einen Großteil unserer Zeit geopfert, auch Menschen, die diesen Weg mit uns gegangen sind, die uns begleitet haben und uns zur Seite standen.
Ich möchte mich an dieser Stelle mit einem großen Dankeschön an die Lehrer wenden, die versucht haben, uns für unseren weiteren Lebensweg vorzubereiten und zu stärken, uns eine große Portion Wissen als Wegzehrung mitzugeben.
Zudem möchte ich mich bei allen Geschwistern, Eltern und Großeltern bedanken, die uns über die letzten Jahre hinweg, insbesondere in der nervenaufreibenden Zeit vor dem Abitur, unterstützt, unsere Nervosität sowie unsere Launen ertragen, erduldet und gemindert haben.
Die größte Herausforderung war für mich persönlich zu Beginn meiner Schulzeit am Melanchthon- Gymnasium, mich in der Schule zurechtzufinden. Als wir uns die Schule - damals noch als Viertklässler - anschauen durften, kam mir diese riesig vor und ich befürchtete, mich in dem Gebäude ständig zu verlaufen.
Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, dass sich dies als eine der geringsten Herausforderungen im Schulalltag erweisen würde.
Neue Lehrer, neue Mitschüler, neue Fächer und Lerninhalte erwarteten uns, als wir vor acht Jahren als frisch gebackene Setzlinge die Schule betraten. Ein Neuanfang, der sich als aufregend erwies, bei dem klar war, dass wir viel lernen und uns verändern, reifer und erwachsener werden würden. Ich erinnere mich daran, wie ich damals voll Ehrfurcht zu den Abiturienten aufschaute und mir überhaupt nicht ausmalen konnte, selbst einmal an der gleichen Stelle zu stehen.
Doch jetzt stehe ich hier und mir ist aufgefallen, dass unsere jetzige Situation der Einschulung ins Gymnasium gar nicht so unähnlich ist. Wir wagen nun den Schritt hinaus ins Ungewisse, Neue, einen Schritt, der einerseits mit viel Unsicherheit, Verantwortung und Erwartungen verbunden ist. Auf der anderen Seite stehen jedoch Neugierde und Vorfreude. Ich bin überzeugt, dass wir diese Aspekte alle zu schätzen wissen werden. Es ist nun an uns, zu gestalten, wie unser weiterer Lebensweg aussehen soll und ich persönlich halte diese Entscheidungsfreiheit für ein großes Geschenk.
Die Welt steht uns offen und wir haben unzählige Möglichkeiten und Perspektiven.
Will ich ins Ausland gehen? Ein FSJ machen? Eine Auszeit nehmen oder gleich eine Ausbildung oder ein Studium beginnen? Wie ein Vogel, der aus dem Nest geschubst werden muss, um seine Fähigkeiten zu entfalten, selbständig zu werden, so müssen auch wir aus der sicheren, geregelten Umgebung der Schule hinaus in die weite Welt treten, um Erfahrungen zu sammeln, die uns prägen und zu den Personen machen, die wir als Erwachsene einmal sein werden. Um fliegen zu lernen.
Ich bin sehr gespannt darauf, zu erfahren, welche Wege ihr alle einschlagen werdet, welche Erfahrungen und Erlebnisse diese Wege mit sich bringen werden.
An dieser Stelle möchte ich eine Weisheit mit euch teilen, die ein Freund Momos dem Mädchen mit auf den Weg gab.
„Siehst du, Momo. Es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, die kann man niemals schaffen. Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger
wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz aus der Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen! Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer nur den nächsten. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut.“
Ich möchte an euch alle appellieren, den Wert der Zeit nicht zu unterschätzen. Wie Momo dürfen wir nicht zulassen, dass uns Zeit gestohlen wird oder wir diese vergeuden. Zwölf Schuljahre liegen hinter uns und die Zukunft breitet sich wie ein unbeschriebenes Blatt Papier vor uns aus. Wir alle sind imstande, diese Geschichte nun selbst zu schreiben. In der Grundschule brachte man uns bei, Buchstaben zu zeichnen, und wir sind nun an einem Punkt angekommen, an dem wir diese Fähigkeit nutzen können. Ich hoffe, wir werden in der Lage sein, den Stift mit Bedacht und Umsicht aufzusetzen, ich hoffe, dass unsere Hände nicht ermüden, bis die Geschichte unseres Lebens wie ein dickes Buch vor uns liegt.
Helen Deutsch